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Die Verbindung von aufklärerischer Vernunft und Wissenschaft

Marburger Schule

„Den Geist der Kantischen Philosophie, dem sie sich verpflichtet wußte, fand die neue Schule im Begriff der transzendentalen Methode. (...) In der Bezugnahme auf das Faktum der Wissenschaft, deren Grundsätze sie ermittelt, wird Philosophie selbst zur Wissenschaft, nämlich zu einer von der Pseudowissenschaft Metaphysik wie der Einzelwissenschaft Psychologie gleicherweise unterschiedenen, in ihrem eigentümlichen Aufgabenbereich gesicherten Wissenschaft.“

Helmut Holzhey, Cohen und Natorp, Basel 1985, Schwabe Verlag, S. 50 u. 56.

„Als den Kerngedanken nun, zu dem alles Andere in Kant in Beziehung zu setzen, von wo aus es zu verstehen und zu bewerten sei, begriff Cohen den Gedanken der transzendentalen Methode. (...) Der feste Ausgangspunkt, der unverrückbare Leitgedanke unseres ganzen Philosophierens ist, wie gesagt, die ‚transzendentale Methode‘. (...) So wird die transzendentale Methode zur ‚kritischen‘: kritisch gegen metaphysische Übergriffe, kritisch auch gegen einen gesetzlosen, gesetzflüchtigen Empirismus.“

Paul Natorp, Kant und die Marburger Schule, Kant-Studien 17 (1912), S. 194, 196, 198.

"To take as a starting point the factum of science means to reconstruct this factum in its genesis, that is to say, to elucidate the cognitive conditions of its ermergence. However, these conditions are not the psychological processes of thinking, but 'pure thought' ('das reine Denken', following Cohen) or the pure conceptual-logical element in knowledge formation, that is to say, concepts (categories) and functions of thinking. Here it is important to see that what stands before us as finished fact of knowing is not simply a 'process, in which we bring a repoduction of an existing, ordered and structured reality to conciousness' (Cassirer, Das Erkenntnisproblem, Vol. 1), but the result of conceptual work, which, in turn, first of all constructs the objec of knowledge. The true object of experience is thus not so much 'the stars in the heavens' but rather the laws which they are subject and according to which they function (Cohen, Logik des reinen Denkens). Only then can one speak meaningfully of the experience of reality. The reconstruction of what is always already constructed in the sciences is the Marburg 'transcendental method'."

Sebastian Luft, Philosophical Historiography in Marburg Neo-Kantianism, in: Gerald Hartung / Valentin Pluder (Hrsg.), From Hegel to Windelband, De Gruyter Verlag, Berlin/Boston 2015, S. 195.

„Plato, Descartes und Leibniz gelten nun als ‚die Führer der Philosophie‘, denen Kant anzuschließen ist. (...) Bei Plato, Descartes und Leibniz bleibt damit klarer als bei Kant in der Unterscheidung von Anschauen und Denken die Priorität des reinen Denkens gewahrt.“

Helmut Holzhey, Cohen und Natorp, Basel 1986, Schwabe Verlag, S. 146.

„Und genau dies unterstreicht die These von der Einheit der reinen mit der angewandten Mathematik: Die Annahme, die Natur sei an sich immer schon da und vorhanden, ist Dogmatismus. Die Marburger beziehen die entgegengesetzte Position; in der Formulierung Cassirers: ‚Das Mathematische besitzt (...) keine schlechthin abgelöste logische Dignität mehr; sondern seine Bedeutung, sein >quid juris< tritt vollständig erst in dem hervor, was es für den Aufbau der empirischen Erkenntnis leistet. Mit der Anwendung der Mathematik wird die Natur überhaupt erst als Inhalt und Gegenstand der Erkenntnis entdeckt und erzeugt.‘“

Thomas Knoppe. Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers: Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1992, S. 29.

„Die Marburger verfolgen damit ähnliche Ziele wie Fichte und Hegel; sie sind sich dessen auch bewußt, sind aber zugleich darin einig (...), daß sie den spekulativen Bahnen des deutschen Idealismus nicht folgen können. Das spekulativ-idealistische Systemprogramm bedeutet ihrem und dem Philosophieverständnis aller Neukantianer zufolge, die Preisgabe des Bezugs auf das ‚Faktum‘ der Wissenschaft. (...) Für die Marburger ist das reine Denken das Denken der Wissenschaft, das im Idealismus Platons gründet und das Kant durch die ‚transzendentale Methode‘ begründet. Ihre Aufgabe sehen die Marburger darum im gleichermaßen historischen wie systematischen Nachweis der Einheit von reinem und wissenschaftlichem Denken, den sie als Sicherung und Vertiefung der ‚transzendentalen Methode‘ verstehen, sowie im allseitigen Ausbau des Idealismus zu einem ‚System der Philosophie‘, das allen Kulturleistungen, allen Objektivationen des Bewußtseins gerecht wird.“

Kurt Walter Zeidler, Provkationen, Ferstl & Perz Verlag, Wien 2018, S. 217.

„So steht, ...in der Entwicklung des Neukantianismus die Lehre Cohens und Natorps derjenigen von Windelband und Rickert scharf gegenüber: ein Unterschied, der sich notwendig aus ihrer allgemeinen Orientierung ergibt, die in dem einen Fall durch die mathematische Naturwissenschaft, in dem anderen durch die Geschichte bestimmt wird.“

Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Band IV, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 19.

„Da der Marburger Neukantianismus Kants Theorie der Erfahrung als eine Theorie der wissenschaftlichen Erfahrung versteht, muss demzufolge die Theorie der mathematischen Naturwissenschaft eine Anwendung mathematischer Begriffe auf die Natur sein. Diese Kant-Interpretation Cassirers hat Konsequenzen für die Bestimmung des Raum-Zeitbegriffs, welche der Neukantianismus als apriorische Anschauungsformen bzw. Kategorien auffasst und die Grundlage jeder Erfahrung, also auch der wissenschaftlichen Erfahrung, bilden. Darüber hinaus ermöglichen sie die strukturelle Konstitution der Naturgegenstände als mathematisch-physikalische Gegenstände. Die Naturgegenstände stellen sich infolgedessen als Inbegriffe von Zahl- und Maßbestimmungen dar.

Reinhold Breil, Die Grundlagen der Naturwissenschaft - Zu Begriff und Geschichte der Wissenschaftstheorie, Würzburg 2010, Königshausen & Neumann, S. 400.

„Neben Kant sind es mit wachsendem Gewicht Platon, Descartes und Leibniz, außerdem neuzeitliche Naturwissenschaftler und hier vorrangig Newton, zu denen sich die Marburger in ein Traditionsverhältnis setzen. Für ihre geistigen Nachfahren zeichnet diese Ahnen die Einsicht aus, daß Philosophie in engstem Zusammenhang mit der Mathematik steht, der Mathematik als naturwissenschaftlicher Grundmethode, nicht als von der Physik strikt gesonderter Formalwissenschaft. Das Einverständnis mit der geschichtlich belegten Hochschätzung der Mathematik hat anti-kantianisch sein Korrelat in der systematischen Einstufung des Denkens vor der Anschauung; geschichtlich wiederum zeigt sich das in der Deutung der Platonischen Ideen als reiner wissenschaftlicher Denkmethoden (Hypothesen).“

Helmut Holzhey, in: Werner Flach / Helmut Holzhey (Hrsg.), Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 1979, S. 15.

Prof. Thomas Mormann: Mathematische Wissenschaftsphilosophie im Marburger Neukantianismus„Die Marburger Schule vertrat einen sehr originellen wissenschaftsphilosophischen Ansatz, den ich als “mathematische Wissenschaftsphilosophie” bezeichnen möchte, der dadurch gekennzeichnet war, daß er die Mathematik – in noch genauer zu beschreibender Weise – ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellte.“

 pdfthomas-mormann---mathematische-wissenschaftsphilosophie-im-marburger-neukantianismus.pdf