Skip to main content

Die Verbindung von aufklärerischer Vernunft und Wissenschaft

Idealismus vs. Materialismus

„Kant entwickelte nicht nur eine für die Naturwissenschaften hervorragend geeignete Methodologie, sondern er zeigte auch, daß wissenschaftliche Fragen im engeren Sinn unsere moralisch-religiösen Vorstellungen eigentlich gar nicht berühren. Insofern kam Kants Standpunkt all denen entgegen, die die Hinwendung zu den Naturwissenschaften begrüßten, die reduktionistischen Tendenzen der verbreiteten materialistischen Strömungen aber ablehnten.

Manfred Pascher, Einführung in den Neukantianismus, München, Wilhelm Fink Verlag UTB 1997, S. 40

„Für die echte idealistische Auffassung bleibt - so befremdend dies klingen mag - ein Abstand zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Wirklichkeit‘ dauernd bestehen: eine Entfernung, die zwar beständig verringert, auf keiner gegebenen Einzelstufe der Erfahrung dagegen völlig zum Verschwinden gebracht werden kann. Die Kraft des idealistischen Grundgedankens bewährt sich gerade darin, daß er sich durch diesen notwendigen Abstand an der Gültigkeit der reinen, begrifflichen Voraussetzungen nicht irre machen läßt. Wo dagegen die volle Identität zwischen Begriff und Sein behauptet wird, da befinden wir uns bereits im Bannkreis der Metaphysik die die Aufgabe, die allem Wissen gestellt ist, vorwegnimmt.“

 Ernst Cassirer, Descartes, in: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Band I, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, Darmstadt 1995, S. 482.

"Ironically, it was the success of the sciences it did so much to inspire that undermined materialism. Materialism was made obsolete by developments in the area materialists most admire, and for which they believed they were providing philosophical foundations, namely physics."

"With the discovery of subatomic particles, materialism could still feel there was a way of hanging on... In the next section it will be shown that contemporary conceptions of the very small are incompatible with traditional materialism in any form."

Robin G. Brown, James Ladyman, Materialism, Routledge 2019, p. 84; p. 87f.

‚Was die Dinge an sich sein mögen‘, äußerte er (Kant) in dem Abschnitt von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe, ‚weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann. (…) Ins Innere der Natur‘ aber, das heißt, des gesetzmäßigen Zusammenhanges der Erscheinungen, ‚dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde.‘“

Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Bd. II, Frankfurt/M. 1974 (1875) S. 499f.

„Der Weg der Forschung führt sicher und unverrückt zum Idealismus; an der Wurzel der physikalischen Begriffe wird der Materialismus vernichtet, und die Mathematik ist es, welche die Befreiung herbeiführt und als eine dauernde verbürgt.  Die alte platonische Verbindung zwischen Philosophie und Mathematik bewährt sich in ihrer ewigen Kraft; die mathematischen Ideen erweisen sich wiederum als das Muster der Ideen und bieten sich der Grundfrage der Philosophie zur Lösung dar, der Frage: was ist Wissenschaft?“

Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange (1914), in: Hermann Cohen Werke 5, Georg Olms Verlag, Hildesheim Zürich New York 1984, S. 92.

„Die Welt dadurch zu erkennen, dass man alle Einzelgestaltungen, so wie sie sind, einzeln vorstellt, ist eine für den endlichen Menschengeist prinzipiell unlösbare Aufgabe. (...) Wer also unter Erkenntnis der Welt ein wirkliches Abbild der Welt versteht, der muss auf eine Wissenschaft, die sich der Erkenntnis des Weltganzen annähert, von vorneherein verzichten. (...) Jede einzelne Anschauung nämlich, die wir aus der unendlichen Fülle herausgreifen, bietet uns, so einfach wir sie auch wählen mögen, immer noch eine Mannigfaltigkeit dar, und wir werden, wenn wir uns an eine nähere Untersuchung machen, finden, dass diese Mannigfaltigkeit um so grösser wird, je mehr wir uns in sie vertiefen. (...) Wir können ...sagen, dass, wenn es überhaupt eine Erkenntnis der Welt für den endlichen Menschengeist geben soll, sie nur so zustande kommen kann, dass durch sie die extensive und die intensive Mannigfaltigkeit der Dinge irgendwie beseitigt oder überwunden wird. In dieser Überwindung der extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit der Dinge zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnis der Körperwelt aber sehen wir die Aufgabe des naturwissenschaftlichen Begriffs.

Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen und Leipzig 1902, S. 34ff.

“Visual perception is the process of recovering useful information about the structure of the world, based on the shifting patterns of light that enter the eyes. Perhaps the most fundamental fact about visual perception is that this task is, strictly speaking, impossible. That is, the shifting patterns of light that enter the eyes are insufficient by themselves to fix the structure of the external world from which that light was reflected or emitted (Marr, 1982), because there are always a multitude of possible structures in the world that could have given rise to those same patterns of light. ... In this sense the visual system must solve an 'inverse problem', which is technically not possible via deductive inference. This underdetermination is most commonly appreciated in the case of depth and three-dimensional shape. A given patch of retinal stimulation, for example, could correspond to an object in the world of almost any size (since a small nearby object will create the same retinal image as a larger object further away) and almost any shape … Such dilemmas of underdetermination are in no way specific of depth perception but hold for almost every aspect of visual processing.“

Brian Scholl, Innateness and (Bayesian) Visual Perception, in: The Innate Mind, (Eds.) Peter Carruthers, Stephen Laurence, Stephen Stich, Oxford University Press, Oxford/New York 2005, S. 40f.

„Keine Einzelform kann freilich jetzt noch den Anspruch erheben, die ‚Wirklichkeit‘ als solche, die ‚absolute‘ Realität in sich zu fassen und zum vollständigen und adäquaten Ausdruck zu bringen. Vielmehr ist der Gedanke einer solchen letzten eindeutigen Wirklichkeit, wenn überhaupt, so nur als Idee faßbar: als die Aufgabe einer Totalität der Bestimmung, bei der jede besondere Erkenntnis- und Bewußtseinsfunktion gemäß ihrer Eigenart und innerhalb ihrer bestimmten Grenzen mitzuwirken hat. (...) Der naive Realismus der gewöhnlichen Weltsicht, wie der Realismus der dogmatischen Metaphysik verfällt freilich immer aufs neue diesem Fehler. Er löst aus der Gesamtheit der möglichen Wirklichkeitsbegriffe einen einzelnen heraus und stellt ihn als Norm und Urbild für alle übrigen auf. (...) Ob wir dieses letzte Sein die ‚Materie‘ oder das ‚Leben‘, die ‚Natur‘ (...) bestimmen: immer ergibt sich für uns auf diesem Wege zuletzt eine Verkümmerung der Weltansicht, weil bestimmte geistige Funktionen, die an ihrem Aufbau mitwirken, ausgeschaltet und dagegen andere einseitig hervorgehoben und bevorzugt scheinen. Es ist die Aufgabe der systematischen Philosophie - die über diejenigen der Erkenntnistheorie weit hinausgreift - das Weltbild von dieser Einseitigkeit zu befreien.“

Ernst Cassirer, Zur modernen Physik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darstadt 1987, S. 109.

„Kant selbst hat sich bei der Erörterung des vierten Paralogismus der reinen Vernunft für den Dualismus ausgesprochen, nach dem die Existenz innerer und äußerer Erscheinungen gewiss ist. Äußere Erscheinungen sind alle Gegenstände in Raum und Zeit qua Gegenstände äußerer Sinne, während innere Erscheinungen alle Gegenstände des inneren Sinns, d.h. alle bewussten und seelischen Zustände und Vorgänge (Vorstellungen aller Art im weitesten Sinne) sind. Für Kant war aber nicht (wie für den Materialismus) das Dasein innerer Erscheinungen oder geistiger, bewusster Realitäten zweifelhaft - im Anschluss an Descartes war ihm die Existenz des denkenden Ich unbezweifelbar gewiss (sum cogitans) -, sondern vielmehr kann am Dasein der Gegenstände äußerer Sinne gezweifelt werden, wenn man nämlich vom Ansichsein dieser Gegenstände ausgeht und auf ihr Dasein schließen muss. Bedenkt man aber den Erscheinungscharakter oder das Fürunssein der Gegenstände äußerer Sinne, dann ist auch die Existenz der äußeren Dinge gewiss (weil sich der transzendentale Idealismus mit dem empirischen Realismus verbindet).

Ingeborg Strohmeyer, Kantischer und moderner Apriorismus, Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 2014, S. 161f.

„Unter einem Idealisten muß man also nicht denjenigen verstehen, der das Dasein äußerer Gegenstände der Sinne leugnet, sondern der nur nicht einräumt: daß es durch unmittelbare Wahrnehmung erkannt werde, daraus aber schließt, daß wir ihrer Wirklichkeit durch alle mögliche Erfahrung niemals völlig gewiß werden können. (...) Der transzendentale Idealist kann hingegen ein empirischer Realist, mithin, wie man ihn nennt ein Dualist sein, d. i. die Existenz der Materie einräumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen, und etwas mehr, als die Gewißheit der Vorstellung in mir, mithin das cogito ergo sum, anzunehmen. Denn weil er diese Materie und sogar deren innere Möglichkeiten bloß für Erscheinungen gelten läßt, die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist sie bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche äußerlich heißen, nicht, als ob sie sich auf an sich selbst äußere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er selbst der Raum aber in uns ist. Für diesen transzendentalen Idealismus haben wir uns nun schon im Anfange erklärt.“

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 368-370.

„Das empirisch Reale ist auf ein transzendental ‚Ideales‘ zurückbezogen, und umgekehrt. Die Korrelativität ist so als eigenartige Zusammengehörigkeit von ‚empirischem Realismus‘ und ‚transzendentalem Idealismus‘ ausdrückbar.“

Rudolf Zocher, Kants Grundlehre – Ihr Sinn, ihre Problematik, ihre Aktualität, Erlangen 1959, S. 36.

„Denn es ist gewiß kein den Sinnen bekannter Gegenstand der Natur, von dem man sagen könnte, man habe ihn durch Beobachtung oder Vernunft jemals erschöpft, wenn es auch ein Wassertropfen, ein Sandkorn, oder etwas noch Einfacheres wäre, so unermeßlich ist die Mannigfaltigkeit desjenigen, was die Natur in ihren geringsten Teilen einem so eingeschränkten Verstand wie der menschliche ist, zur Auflösung darbietet.“

Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, Suhrkamp Verlag, Vorkritische Schriften bis 1768, Bd. II, S. 963.

"Kant thus takes the problem of explaining the application of mathematics to nature to be highly non-trivial: it cannot be accomplished in one fell swoop, as it were, by defining matter in purely geometrical terms. What is required, rather, is an explanation of how it is possible to apply mathematical construction to empirically given properties of matter step by step, beginning with the most fundamental such property - motion - and then proceeding to others such as density, mass, and force. The required explanation, in Kant's view, also involves a full appreciation of how the traditional a priori concepts of metaphysics (such as substance, causality, and so on) are themselves applied to the objects of our empirical intuition."

Michael Friedman, KANT's Construction of Nature, Cambridge University Press, Cambridge 2015, p. 237.

Materie ist das Bewegliche im Raume. Der Raum der selbst beweglich ist, heißt der materielle oder auch der relative Raum, der, in welchem alle Bewegung zuletzt gedacht werden muß (der mithin selbst schlechterdings unbeweglich ist), heißt der reine, oder auch absolute Raum
(...) Anmerkung
Bewegung ist so, wie alles, was durch Sinne vorgestellt wird, nur als Erscheinung gegeben. Damit ihre Vorstellung Erfahrung werde, dazu wird noch erfordert, daß etwas durch den Verstand gedacht werde, nämlich zu der Art, wie die Vorstellung dem Subjekte inhäriert, noch die Bestimmung eines eines Objekts durch dieselbe. Also wird das Bewegliche, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung, wenn ein gewisses Objekt (hier also ein materielles Ding) in Ansehung des Prädikats der Bewegung als bestimmt gedacht wird.

Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Meiner Verlag, Hamburg 1997, S. 17 (480) und S. 113 (554).

Platon wird der Begründer des Systems der Philosophie, dessen Problem Sokrates aufgeworfen hatte, weil er die Logik begründete, und in ihr das System der Philosophie. Er gilt allgemein als der Begründer des Idealismus. Aber das Wort Idealismus ist in der gesamten Geschichte der Kultur, in welcher es trotz alledem das führende Stichwort geworden und geblieben ist, nur an leuchtenden Wendepunkten aus einer unklaren und ungenauen Bedeutung herausgetreten. Das war es ja eben, was Lange, der mit allen Fasern seines Geistes und Gemüts ein wahrhaftiger Idealist war, der Geschichte des Materialismus zutrieb: weil er den Idealismus zweideutig fand, und dagegen in dem Trotz des Materialismus Wahrheitssinn erkannte; während er deutlich und nachdrücklich genug es aussprach, daß der Materialismus seine besten Tendenzen, in denen er sich von dem falschen Idealismus, dem unfruchbaren Spiritualismus zu befreien suchte, nicht selbst durchzuführen vermöge, sondern dem Idealismus diesen Erfolg verdanke.“

Hermann Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur neunten Auflage der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange (1914), in: Hermann Cohen Werke 5, Georg Olms Verlag, Hildesheim Zürich New York 1984, S. 14f.

"The fact that perceptions can depart from physically accepted realities of objects has philosophical implications and practical consequences. It tells us that our perceptions are not always, and very likely never, directly related to physical reality.“                                      

Richard L. Gregory, Eye and Brain, Princeton University Press, 1997, p. 196f

“The major difficulty with the view of naïve realism is that the visual system does not have direct access to facts about the environment; it has access only to facts about the image projected onto the retina. … The confusion that underlies the experience error is typically to suppose, that the starting point for vision is the distal stimulus rather than the proximal stimulus. This is an easy trap to fall into, since the distal stimulus is an essential component in the causal chain of events that normally produces visual experiences. …Taking the distal stimulus as the starting point for vision, however, seriously underestimates the difficulty of visual perception because it presupposes that certain useful and important information comes ‘for free’. But the structure of the environment is more accurately regarded as the result of visual perception rather than the starting point. As obvious and fundamental as this point might seem, now that we are acquainted with the difficulties in trying to make computers that can ‘see’ the magnitude of the problem of perceptual organization was not fully understood until Wertheimer raised it in his seminal paper in 1923.”

Stephen E. Palmer, Vision Science, Bradford MIT Press 1999, p. 257.

„So finde ich z. B. zwei verschiedene Ideen der Sonne bei mir vor, die eine so, als ob sie aus den Sinnen geschöpft wäre, und diese mag am ehesten zu denen zu zählen sein, von denen ich meine, daß sie von außen kommen. Durch diese erscheint mir die Sonne sehr klein. Die andere Idee hingegen ist aus den Berechnungen der Astronomie entnommen, d. h. sie ist aus gewissen, mir eingeborenen Begriffen gebildet oder in irgendeiner anderen Weise von mir zustande gebracht. Durch diese erweist sich mir die Sonne als vielmal größer, denn die Erde. Offenbar können nun nicht beide einer und derselben außer mir existierenden Sonne ähnlich sein, und die Vernunft überzeugt mich, daß ihr die am unähnlichsten ist, welche am unmittelbarsten von ihr selbst herzukommen scheint.“

René Descartes, Dritte Meditation, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Meiner Verlag, Hamburg 1972, S. 31f.

„Als bloße Erregungen unseres Inneren können die Zustände, welche den äußeren Reizen folgen, ohne weitere Vorbereitung in uns beisammen sein und auf einander so wirken, wie es eben die allgemeinen Gesetze unseres Seelenlebens gestatten oder befehlen: um dagegen in der bestimmten Form eines Gedankens verbindbar zu werden, bedürfen sie einzeln einer vorgängigen Formung, durch welche sie überhaupt erst zu logischen Bausteinen, aus Eindrücken zu Vorstellungen werden. Nichts ist uns im Grunde vertrauter als diese erste Leistung des Denkens; wir pflegen nur deshalb über sie hinwegzusehen, weil sie in der Bildung der uns überkommenen Sprache beständig schon geleistet ist und darum zu den selbstverständlichen Voraussetzungen, nicht mehr zu der eigenen Arbeit des Denkens zu gehören scheint.

Rudolf Hermann Lotze, Logik. Erstes Buch. Vom Denken (1874), Hrsg. Gottfried Gabriel, Meiner Verlag, Hamburg 1989, S. 14.

„Ohne den Gedanken einer Gleichung, die das Verhältnis der Fallräume und Fallzeiten bestimmt, ohne den Gedanken der Beharrung des Bewegungsquantums, ohne den allgemeinen Begriff und das allgemeine Verfahren der Messung und Zählung wäre kein einzelnes Experiment Galileis möglich gewesen: weil ohne diese Vorbedingungen das gesamte Problem Galileis schlechthin unverständlich bliebe. Somit ist die Erfahrung selbst eine ‚Erkenntnisart, die Verstand erfordert‘; d. h. ein Prozeß des Schließens und Urteilens, der auf bestimmten logischen Vorbedingungen beruht. Und damit hat sich uns in der Tat wiederum ein ‚Ganzes‘ gezeigt, das nicht aus einzelnen Teilen zusammengelesen ist, sondern auf Grund dessen die Setzung von ‚Teilen‘, von besonderen Inhalten erst möglich ist. Auch die Natur muss als System gedacht sein, ehe sie in ihren Einzelheiten beobachtet werden kann.“

Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, (Berlin 1918), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1977, S. 178.

„Materie ist das Bewegliche, so fern es, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung sein kann. Bewegung ist, so wie alles, was durch die Sinne vorgestellt wird, nur als Erscheinung gegeben. Damit ihre Vorstellung Erfahrung werde, dazu wird noch erfordert, daß etwas durch den Verstand gedacht werde, nämlich zu der Art, wie die Vorstellung dem Subjekte inhäriert, noch die Bestimmung eines Objekts durch dieselbe. Also wird das Bewegliche, als ein solches, ein Gegenstand der Erfahrung, wenn ein gewisses Objekt (hier also ein materielles Ding) in Ansehung des Prädikats der Bewegung als bestimmt gedacht wird.“

Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), Viertes Hauptstück, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1997, S. 113.

„In einer Hinsicht freilich bleibt die Trennung zwischen dem naturwissenschaftlichen Begriff und der ‚Wirklichkeit‘, wie sie uns in den sinnlichen Eindrücken gegeben ist bestehen. Keiner der Grundbegriffe der Naturwissenschaft läßt sich als Bestandteil der sinnlichen Wahrnehmung aufweisen und durch einen unmittelbar entsprechenden Eindruck belegen. Immer deutlicher hat es sich vielmehr gezeigt, daß das naturwissenschaftliche Denken, je weiter es seine Herrschaft ausdehnt, um so mehr zu begrifflichen Konzeptionen gedrängt wird, die im Gebiet der konkreten Empfindungen kein Analogon mehr besitzen. Nicht nur hypothetische Begriffe, wie das Atom (...), sondern rein empirische Begriffe wie Materie oder Bewegung, lieferten den Beleg dafür, daß die wissenschaftliche Forschung neben den ‚gegebenen‘ Elementen der Wahrnehmung die rein idealen und in keiner direkten Erfahrung aufzeigbaren Grenzbegriffe, daß sie neben dem ‚Wirklichen‘ das ‚Nicht-Wirkliche‘ nicht zu enbehren vermag. (...) Gerade in dieser scheinbaren Abkehr von der Wirklichkeit der Dinge strebt sie ihr vielmehr auf neuen Wegen zu. Eben jenen Begriffen, die keinen direkt aufweisbaren anschaulichen Gehalt mehr besitzen, kommt dennoch eine unentbehrliche Funktion für die Gestaltung und den Aufbau der anschaulichen Wirklichkeit zu.“

Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, S. 302ff.

„So ist es die psychologische Empirie selbst gewesen, die mehr und mehr den Traum des psychologischen Empirismus zerstört hat, das Wirkliche dadurch zu fassen und verstehen zu können, daß man es in seine letzten sinnlichen Elemente, in die Urdata der Empfindung auflöst. Diese ‚Gegebenheiten‘ erweisen sich jetzt vielmehr als Hypostasen – so daß die Lehre, die dazu bestimmt schien, der reinen Erfahrung zum Sieg über die bloße Konstruktion, der Sinnlichkeit zum Sieg über den abstrakten Begriff zu verhelfen, vielmehr einen unverkennbaren und unüberwundenen Rest des Begriffsrealismus in sich schließt. Abermals ist uns damit die ‚Materie‘ des Wirklichen, auf deren Feststellung wir ausgingen, im Moment, in dem wir sie zu greifen suchten, gewissermaßen unter den Händen entschlüpft.“

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1982, Bd. III, S. 41.

Der erkenntniskritische Idealismus. - Die Einsicht in die solide Wissenschaftlichkeit des kritischen Idealismus wird durch das Verständnis zweier Momente bedingt... Einerseits muss der konstruktive Charakter des Denkens im Vordergrunde bleiben: dass die Welt der Dinge auf dem Grunde der Gesetze des Denkens beruht; dass die Dinge nicht schlechthin als solche gegeben sind, wie sie auf unsere Sinne einzudringen scheinen; dass vielmehr die Grundgestalten unseres denkenden Bewusstseins zugleich die Bausteine sind, mit denen wir die sogenannten Dinge in und aus letzten angeblichen Stoffteilchen zusammensetzen, und die Normen, mit denen wir die Gesetze und Zusammenhänge jener entwerfen und als Gegenstände wissenschaftlicher Erfahrung beglaubigen. Das ist das Bestimmende der Idee im Idealismus: keine Dinge anders als in und aus Gedanken.

Hermann Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Verlag Turia + Kant, Wien/Berlin 2013, S. 247.

„Die Natur, in dieser Bedeutung des Worts genommen, hat nun, nach der Hauptverschiedenheit unserer Sinne, zwei Hauptteile, deren der eine die Gegenstände des äußeren, der andere den Gegenstand des inneren Sinnes enthält, mithin ist von ihr eine zwiefache Naturlehre, die ‚Körperlehre‘ und ‚Seelenlehre‘ möglich, wovon die erste die ausgedehnte, die zweite die denkende Natur in Erwägung zieht.“

Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede IV, Meiner Verlag, Hamburg 1997, S. 3.

„Das Bewußtsein läßt sich aus stofflichen Bewegungen nicht erklären. Wie bündig auch dargetan wird, daß es von stofflichen Vorgängen durchaus abhängig ist, das Verhältnis der äußeren Bewegung zur Empfindung bleibt unfaßbar und enthüllt einen um so grelleren Widerspruch, je näher man es beleuchtet.“

Friedrich Albert Lange, Die Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Suhrkamp, FfM 1974, Band II., S. 455

„Die mathematische Naturwissenschaft ist das Reale, an welchem der Idealismus zunächst sich zu betätigen hat. Seiner durchgreifenden Methode nach hat er die Einheit mit dem empirischen Realismus anzustreben. In der Wissenschaft die Vernunft zu achten, das ist das erste Kennzeichen des echten Idealisten.

Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1885, S. 579.

„...wird ein Begriff vom Gegebenen und Einzelnen aufgestellt, ohne daß erkannt ist, daß jeder solche Begriff, explizit oder implizit, immer schon die Momente und Bestimmungen irgendeines Allgemeinen in sich fassen muß.“

Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1982, Bd. I, S. 47.

„Bietet die Welt der unmittelbaren sinnlichen Erlebnisse wirklich ‚Merkmale‘ dar, die nun in fertiger Prägung aus ihr einfach übernommen werden und durch bloße additive Verknüpfungen zu ‚Begriffen‘ vereinigt werden können? Oder gilt nicht vielleicht das Umgekehrte – sollte nicht die Setzung des Merkmals die Arbeit des Begriffs, die sie begründen will, in Wahrheit schon voraussetzen? ... Dadurch kommt in die Behandlung der formalen Logik gewissermaßen ein Moment des ‚naiven Realismus‘ hinein, das fortan ihren ganzen Aufbau beherrscht und bestimmt... Nach dem ‚Ursprung‘ der Merkmale selbst wird nicht gefragt: Ihn hat nicht die Logik, sondern ihn hat die gegebene Welt der ‚Dinge‘ oder aber die gegebene Welt der ‚Eindrücke‘ zu verantworten. Aus ihnen beiden fließt dem Denken ein stets breiter und immer neuer Strom von fertigen Merkmalen zu, den es sodann nur in geeigneter Weise zu verarbeiten, zu vergleichen und zu verknüpfen hat. ... Eine Welt von ‚Merkmalen‘ galt als gegeben, sofern sie durch den Akt der sprachlichen Benennung fixiert und als solche herausgelöst waren.“

Ernst Cassirer, Zur Theorie des Begriffs, in: Ernst Cassirer, Aufsätze und kleine Schriften, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Meiner Band 17, 2004, S. 89.

„Im Gegenteil aber kann ich mir kein körperliches, d. h. ausgedehntes Ding denken, das ich nicht in Gedanken unschwer in Teile teilen... könnte, und das alleine würde hinreichen, mich zu lehren, daß der Geist vom Körper gänzlich verschieden ist, wenn ich es noch nicht anderswoher zur Genüge wüßte.

René Descartes, Sechste Meditation, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Meiner Verlag, Hamburg 1972, S. 74.

„Niemand versucht es eine Wissenschaft zu Stande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich zu Anfange von seiner Wissenschaft gibt, sehr selten seiner Idee; denn diese liegt, wie ein Keim, in der Vernunft, in welchem alle Teile noch sehr eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beobachtung kennbar, verborgen liegt. (...) Es ist schlimm, daß nur allererst, nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee, rhapsodistisch viele dahin sich beziehende Erkenntnisse, als Bauzeug, gesammelt, ja gar lange Zeit hindurch sie technisch zusammengesetzt haben, es uns denn allererst möglich ist, die Idee in hellerem Licht zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.“

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 862 / 863.

“The abstract mathematical representations lying at the basis of this new theory of space, time, and motion - Einstein's general theory of relativity - are even more radically dissociated from sense experience than those of Newtonian physics. For infinite three dimensional Euclidian space can still plausibly be taken as a fundamentally intuitive 'form' of our human sense-perception (as it was for Kant), even though, as we have seen, the application of this representation to concrete physical phenomena becomes profoundly ambiguous in modern mathematical physics. But for four dimensional, variably-curved geometry of general relativity is an entirely non-intuitive representation having no intrinsic connections whatever to ordinary human sense experience.

Michael Friedman, Dynamics of Reason, CSLI Publications Stanford 2001, p. 78.

„Was aber durch Kant in jedem Fall gewonnen ist, das ist eben die Verwandlung der metaphysischen Schwierigkeit in eine empirische und damit unter andrem das höchst Wichtige: daß aller Materialismus als eine in sich widerspruchsvolle Metaphysik erwiesen ist. Denn gerade er geht ja hinter die gegebnen Erscheinungen zurück, gerade er begnügt sich nicht mit der empirischen Welt, die das Körperliche und Geistige als letzte heterogene Tatsachen vorfindet... Er ist in genau demselben Sinne Metaphysik wie der Spiritualismus, für den umgekehrt alles körperliche Dasein ein geistiges ist. (...) Daß im 19. Jahrhundert der Materialismus noch einmal, trotz Kant, Schule machen konnte, beweist, wie sehr er Metaphysik ist, d. h. von Gefühlen und Willenstendenzen, von allgemeinen kulturellen und personalen Motiven abhängig ist, die jenseits der wissenschaftlichen Intellektualität stehn und alle Belehrung durch diese ausschlagen.“

Georg Simmel, Kant - 16 Vorlesungen, München / Leipzig 1913, S. 80f.

„Wenn der dogmatische Materialismus den Gedanken als einen Spezialfall der Mechanik abzuleiten versucht, so braucht diese Betrachtungsweise nur fortgesetzt und zu Ende gedacht werden, um alsbald eine eigentümliche Rückwendung zu erfahren. Denn diese Mechanik selbst führt, wenn ihr Begriff nicht in der Unklarheit eines populären Schlagwortes, sondern in der Schärfe seiner wissenschaftlichen Bedeutung gebraucht wird, auf mathematische, d. h. ideelle Grundfaktoren zurück. Was Bewegung ‚ist‘, lässt sich nicht anders als in Größenbegriffen aussagen: diese setzen aber zu ihrem Verständnis ein Grundsystem der reinen Grössenlehre voraus. So werden die Prinzipien und Axiome der Mathematik zu dem eigentlichen Fundament, um irgendeiner naturwissenschaftlichen Aussage über die Wirklichkeit Halt und Sinn zu verleihen.“

Ernst Cassirer, Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, Kant-Studien 17 (1912), S. 256.

“It is interesting that Cassirer focused on the method of science and on its progressive character. He employed two Kantian premises in his analysis of relativity theory. First, there are no pre-existing or given objects in the world; human reason creates conceptual relations through which we come to know the universe of objects. Secondly, the evolution of the scientific method, applicable to both the natural sciences and the humanities is eo ipso man's progressive liberation from the naive and substantialistic (materialist) view of the world.

David R. Lipton, Ernst Cassirer: The dilemma of a liberal intellectual in Germany 1914-1933, University of Toronto Press, p. 90.

„Die naturwissenschaftlichen ‚Realitäten‘ sollen nicht länger als der selbstverständliche und fraglose Anfang der Erkenntniskritik gelten. Sie selbst enthüllen sich vor der fortschreitenden Analyse als ideale Gebilde: als Inhalte, deren Bestimmtheit auf dem logischen Gehalt beruht, den sie in sich bergen. Materie und Bewegung, Kraft und Masse werden in dieser Weise als Instrumente der Erkenntnis begriffen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung aber wird erst dann erreicht, wenn wir auf das mathematische Grundmotiv zurückgehen, das allen besonderen naturwissenschaftlichen Begriffsbildungen vorausliegt. Dieses Motiv liegt in der gedanklichen Methodik des ‚Infinitesimalen‘ vor uns. Ohne sie wäre es nicht möglich, den Begriff der Bewegung, wie die mathematische Naturwissenschaft ihn voraussetzt, auch nur streng zu bezeichnen, geschweige die Gesetzlichkeit der Bewegung begrifflich zu beherrschen.“

Ernst Cassirer, Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, Meiner 2001, S. 127.