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Die Verbindung von aufklärerischer Vernunft und Wissenschaft

Hermann Cohen (1842 - 1918)

Foto Hermann Cohen

„In Germany the greatest efforts have been made to forget the name of Hermann Cohen, and to efface or suppress his philosophical work. But all these efforts will prove useless. Future historians of German philosophy in the second half of the nineteenth century will regard Cohen as one of the greatest representatives of that period.“  

Ernst Cassirer (1943), Hermann Cohen (1842-1918), in: Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 24, Meiner Verlag 2007, S. 161.

„Die in Kants Vernunftkritik vorgezeichnete, durch eine reich strukturierte Prinzipienarchitektonik aber auch kunstvoll im Zaum gehaltene Verschränkung von philosophischer und wissenschaftstheoretischer Argumentation, wird bei Cohen zur bedingungslosen Einheit von reiner Erkenntnis und mathematisch-naturwissenschaftlichem Denken.

Kurt Walter Zeidler, Das Problem des Einzelnen, in: Christian Krijnen / Andrzej Noras (Hrsg.), Marburg versus Südwestdeutschland, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2012, S. 187.

„Mit Kant wird gesagt: Die Erscheinung oder, unkantisch, das ‚wirkliche Ding‘ wird erst zum realen Objekt in der Erkenntnis bzw. sofern es erkannt ist. Dies kann man als die allgemeine idealistische Grundposition bezeichnen, die Cohen im Anschluss an Kant vertritt. Innerhalb des Arsenals der Elemente, in die Kant die Erkenntnis zerlegt hatte, sind es nun in der Tat die apriorischen Faktoren, welche die Objektivität (qua Allgemeingültigkeit) der Erkenntnis begründen.“

Geert Edel, Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik, Verlag Karl Alber, Freiburg/München 1988, S. 112f.

„Der Weg, auf dem er zu seinen Ergebnissen gelangt, die begriffliche Vermittlung, durch die er sie gewann, sind daher für ihr Verständnis nicht minder notwendig und charakteristisch als der Inhalt dieser Ergebnisse selbst. Dieser Weg aber führt einerseits durch die großen idealistischen Systeme der Vergangenheit, durch die Philosophie Platons und Descartes', Leibniz' und Kants hindurch, wie er andererseits tief in die Grundfragen und Grundschwierigkeiten der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaften hineinführt. Mit allen diesen Fragen muß man vertraut sein und ihren wesentlichen Gehalt muß man sich zu eigen gemacht haben, wenn man auch nur den ersten Eingang in Cohens Gedankenwelt finden will.“

Ernst Cassirer, Zur Lehre Hermann Cohens (1918), in: Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Birgit Recki (Hsg.), Band 9, Meiner Verlag, Hamburg 2001, S. 494.

„Cohen hat die systematische Leitidee seiner Erneuerung des Kantianismus schon früh auf die Formel vom ‚Idealismus in der Naturwissenschaft‘ gebracht. Darin deuten sich zwei Grundtendenzen seiner interpretatorischen Arbeit an: die ‚mathematische Naturwissenschaft‘ als den primären Gegenstand der Erkenntnis- bzw. Erfahrungstheorie Kants in den Vordergrund zu rücken und die idealistische Erkenntnisauffassung, dabei Kants umfassendes Problembewußtsein gegebenenfalls auch einengend, neu zu begründen; diese Schwerpunkte der Interpretation sind Leitlinien für das systematische Philosophieren Cohens geblieben. (...)

Helmut Holzhey, in: Werner Flach / Helmut Holzhey, Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus, Gerstenberg Verlag, Hildesheim 1979, S. 20.

„Am klarsten tritt der wechselseitige Zusammenhang des logischen und des empirischen Moments der Erkenntnis in der Fortbildung hervor, die Cohen Kants Grundsatz von den ‚Antizipationen der Wahrnehmung‘ gegeben hat. Hier liegt der Weg, der in seiner Weiterführung zu seiner eigenen systematischen Gestaltung der ‚Logik der reinen Erkenntnis‘ hingeleitet hat. (...) Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Begriff des Unendlichkleinen kein sinnlich faßbares ‚Dasein‘, sondern eine eigentümliche Art und Grundrichtung des Denkens bezeichnet: In dieser Grundrichtung aber ist nunmehr die notwendige Voraussetzung für das naturwissenschaftliche Objekt selbst erwiesen.“

Ernst Cassirer, Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, in: Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, Band 9, Meiner 2001, S. 126f.

"Cohen's idealism is very much a synthesis of Plato and Kant. This synthesis in Cohen's Kantian interpretation of Plato, which he first put forward in 1866, and which he spent the rest of his life elaborating and refining. According to this interpretation, the Platonic idea is best understood in terms of Kant´s critical method or what Cohen also called 'the method of hypothesis'. This method, as Cohen explains it, consists in two basic tasks: first, giving an analysis of a concept, i.e. breaking it down into its simpler elements; and, second, justifying or providing a foundation for it. It is the very essence of the critical method, Cohen insists, that it has no stopping points, that the demand for justification must always be made, and that it never comes to an end."

Frederick C. Beiser, Hermann Cohen - An Intellectual Biography, Oxford University Press, Oxford 2018, p. 3.

"Cohen's starting point was the claim that experience itself is already misunderstood as simply given in the manner of a substance or something simply appearing. As Cohen describes this central problem in his Kant's Theory of Experience, 'The content of experience, which Hume took for granted, is here what is put into question.' The specific mathematical theme of calculus comes to the fore as the key example demonstrating the 'constructed' nature of immediate experience. The importance of mathematics is that it allows us to demonstrate the proper balance of thinking (denken) and sensible intuitability (Anschauung) in philosophy, a balance that will then affect nearly every other feature of Cohen's work. 'The definition of the infinitesimal method,' as Cohen says, 'is conditioned by the establishment of the boundaries of intuitability and thought.'"

Gregory B. Moynahan, Ernst Cassirer and the Critical Science of Germany 1899-1919, Anthem Press, London/New York 2014, p. 51.

„Von entscheidender Bedeutung ist aber namentlich: Kants Theorie der Erfahrung, von Dr. Hermann Cohen, Berlin 1871, weil hier zum ersten Male die ganze Kraft einer konzentrierten Arbeit darauf verwandt wurde, die Terminologie Kants vollständig zu bewältigen und so an der Hand genauester Begriffsbestimmung tiefer in den Sinn des Philosophen einzudringen; (...) Daß die Gründlichkeit, mit welcher Dr. Cohen zu Werke ging, nicht ohne Frucht geblieben ist, wird vielleicht auch aus unserer jetztigen Darstellung der Kantschen Philosophie in ihrem Verhältnis zum Materialismus hervorgehen.

Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Frankfurt/Main 1974, Suhrkamp Verlag, Band 2, S. 561.

„Nicht die Sterne am Himmel sind die Objecte, die jene Methode zu betrachten lehrt, sondern die astronomischen Rechnungen, jene Facten wissenschaftlicher Realität sind gleichsam das Wirkliche, das zu erklären steht, auf welches der transcendentale Blick eingestellt wird.“

Hermann Cohen, Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, S. 20.

„Mit Cohen kehrt, ganz früh in der neukantianischen Periode, eine Art Systemdenken in die deutsche Philosophie zurück: der deduktive Systemtypus, der ein absolutes Zentrum, eine Idee und eine systematisch einheitliche Weltanschauung propagierte, bildet die Grundlage auch für Cohens Verhältnis zur Geschichte und zur Kritik: ‚Hat man einmal den Kernpunkt einer solchen Kritik (an Kant, KCK) getroffen, so ist alles andere mitgetroffen‘“.

Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, Frankfurt/Main 1986, Suhrkamp Verlag, S. 274.

„So ist denn in der Tat Cohens Logik, weil der ethische Rationalismus nichts Fertiges hinnehmen darf, im Gegensatz zur Hegelschen ein ‚offenes System‘, in welchem ein labiles, variables, weitere Entwicklungen offen lassendes Verhältnis zwischen Urteil und Kategorie besteht und die platonische Idee der Hypothesis in Wirksamkeit bleibt: so muß immer von neuem nach dem Ursprung gegraben und je nach dem Befunde der Weg der Logik, der nur einen unendlichen Geist völlig dialektisch wäre fortgesetzt werden. Die Charakterisierung der Cohenschen Philosophie als Panmethodismus bringt diese Eigentümlichkeit zum Ausdruck.“

Heinrich Levy, Die Hegel-Renaissance in der deutschen Phiosophie, Charlottenburg 1927, S. 35.

„In dieser Auffassung des Kontinuitätsproblems scheint also die Grundfrage Kants, wie es zu denken sei, dass - weil ‚Etwas‘ ist, dadurch zugleich ein ‚Anderes‘, von ihm völlig Verschiedenes sein müsse - eine neue Form zu erhalten und damit eine neue Dimension zu erreichen. Die ‚Synthesis a priori' muß nicht mehr als eine bloße Zusammenfassung und Verknüpfung anderweitig getrennter Elemente gesehen werden. Hier gibt es nicht mehr ein abstraktes ‚Eines‘, dem in gleich abstrakter Sondierung ein ‚Anderes‘ gegenübersteht, sondern das Eine muß im Vielen sein, wie das Viele ‚im‘ Einen. Jede mögliche Einteilung eines Prozesses, jeder seiner möglichen Zustände muß immer wieder ein Teil des Prozesses sein: ‚Die Kontinuität - so hat Cohen in Das Prinzip der Infinitesimal-Methode das philosophische Kontinuumsproblem zusammengefasst - ist also eine allgemeine Grundlage des Bewußtseins: nicht auf Haufen disparater Elemente verwiesen zu sein, sondern im Zusammenhange vergleichbarer Glieder zu wurzeln.“

Marco Giovanelli, Kants Grundsatz der ‚Antizipationen der Wahrnehmung‘ und seine Bedeutung für die theoretische Philosophie des Marburger Neukantianismus, in: Marion Heinz / Christian Krijnen (Hrsg.), Kant im Neukantianismus, Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, S. 54f.

„Denken ist Denken des Ursprungs. Dem Ursprung darf Nichts gegeben sein. (...) die Logik muss demnach Logik des Ursprungs werden. Denn der Ursprung ist nicht nur der nothwendige Anfang des Denkens; sondern in allem Fortgang muss er sich als das treibende Princip bethätigen. Alle reinen Erkenntnisse müssen Abwandlungen des Princips des Ursprungs sein.“

Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, S. 33.

„Kants Bestimmung der Realität enthält aber die Wahrnehmung und mit dieser die ihr inhärente empirische Komponente als Voraussetzung für die Begriffsbestimmung. Damit ergibt sich ein Begriff, der etwas Nicht-Vernünftiges als Voraussetzung enthalte. Nach Cohens Auffassung muss aber das Denken fähig sein, sich selbst seine Voraussetzungen zu geben. Deshalb sieht sich Cohen veranlasst, die Kantischen Voraussetzungen für die Bestimmung der Realität zu Gunsten des Denkens abzuändern. Um dieses zu bewerkstelligen, bedient sich Cohen des Infinitesimalbegriffs, welcher dazu dient ‚eine Art wissenschaftliches Sein zu erdenken, welche zunächst nur durch ihren Unterschied zum Endlichen zu charakterisieren ist.‘ Durch das Infinitesimale wird die Verbindung zwischen Denken und Sein hergestellt, dieses Sein befindet sich aber auf der Ebene der reinen Anschauung, die die von Kant zweigeteilte Anschauung ersetzt. Dieses ‚wissenschaftliche Sein‘ im Begriff des Infinitesimalen herzustellen, leistet ein ‚Grundgesetz des Bewusstseins‘, das der Kontinuität, wodurch sich eine Beziehung zu dem Seienden ergibt.“

Herta Mayerhofer, Der philosophische Begriff der Bewegung in Hermann Cohens ‚Logik der reinen Erkenntnis‘, Facultas Verlag, Wien 2004, S. 87.

Die Kontinuität wurde zum Oberbegriff, aus welchem das Unendliche sich ableitet. (...) Denn jetzt beruht das Sein des Unendlichen auf dem Gedanken der Kontinuität. Die Kontinuität ist jetzt ein Prinzip als Idee und als Gesetz, ebenso sehr der Vernunft als der Natur. (...) Nunmehr gewinnt er das Selbstverständnis von seinem Prinzip der Kontinuität als einem realisierenden Prinzip, welches diese Realisierung durch das Infinitesimale vollzieht, in welchem der Zusammenhang von Sein und Denken, von Ding und >Idee< hergestellt und begründet wird.

Hermann Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Einleitung, Verlag Turia + Kant, Wien/Berlin 2013, S. 152f.

„Platon spricht es in einem Satz aus, den Cohen den Satz der Sätze nennt: ‚Die Geometrie ist die Erkenntnis des beständig Seienden.‘ Das Objekt der Mathematik sind ta mathematika, zahlenmäßig Verhältnisse, beständig Seiendes also, die mathematischen Sätze oder Gesetzmäßigkeiten. Cohen bezeichnet es, notabene in Identität mit dem Objekt der Dialektik, als ontos on (Sein des Seienden) wahres Sein, wahrhaft Seiendes, objektive Realität, wissenschaftliche Objektivität.“

Peter Schulthess, Platon: Geburtsstätte des Cohenschen Apriori? in: Philosophisches Denken - Politisches Wirken, Reinhard Brandt / Franz Orlik (Hrsg.), Georg Olms Verlag, Hildesheim 1993, S. 72.

„Das Ding an sich ist somit der Inbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnisse. (...) Sie enthalten daher nicht nur das, was ermittelt ist, sondern in sich zugleich das, was fraglich bleibt. Das ist der Charakter aller Begriffe: dass sie, indem sie Denkforderungen befriedigen, neue stellen. Es gibt keinen definierten Abschluss. Jeder richtige Begriff ist eine neue Frage, keiner eine letzte Antwort. Das Ding an sich, als ‚Umfang und Zusammenhang‘ der Erkenntnis gedacht, muss daher zugleich der Ausdruck der Fragen sein, welche in jenen Antworten der Erkenntnisse eingeschlossen sind. Diese fernere Bedeutung des Ding an sich bezeichnet ein anderer Ausdruck, durch welchen Kant das x, als welches er wiederholentlich das transcendentale Objekt bezeichnet, bestimmt und vertieft hat. Das Ding an sich ist ‚Aufgabe‘.“

Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung, Berlin 1885, S. 519.

„Hermann Cohen entwickelte seine eigene Position an dem Leitfaden einer Kantinterpretation, die Trendelenburgs latenten Platonismus, seine Lehre von der ursprünglichen Tätigkeit und konstruktiven Bewegung, sowie den wissenschaftstheoretischen Ansatz seiner Logischen Untersuchungen gleichsam als Hebel einsetzt, um Kants Lehre von allen Anmutungen eines empirischen oder subjektiven Idealismus zu befreien.“

Kurt Walter Zeidler, F. A. Trendelenburg - Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Neukantianismus, in: Provokationen, Ferstl & Perz Verlag, Wien 2018, S. 172.

Bedeutende Werke:

Zur Kontroverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer, Zeitschrift f. Völkerpsychologie u. Sprachwissenschaft 7, 1871
Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871 / 1885 / 1918

Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877 / 1910
Platons Ideenlehre und die Mathematik, Marburg 1879
Das Prinzip der Infinitesimalmethode, Berlin 1883
Kants Begründung der Ästhetik, Berlin 1889
Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902 / 1914
Ethik des reinen Willens, Berlin 1904
Kommentar zu Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1907
Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Gießen 1915
Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Leipzig 1919

 

Hermann Cohen Werkausgabe: http://www.olmsonline.de/no_cache/dms/met/?IDDOC=676

Hermann Cohen Archiv:   https://www.philosophie.uzh.ch/de/seminar/library/research/cohen_archive.html

Hermann Cohen Gesellschaft: http://www.hermann-cohen-gesellschaft.org/

Biographie: https://www.deutsche-biographie.de/sfz8558.html#ndbcontent

 

Geert Edel: Der Zusammenhang der Systemteile in ihrer methodischen Verknüpfunghttps://www.geert-edel.de/Texte/Text7.pdf

Geert Edel: Die Aktualität Cohens in der gegenwärtigen Philosophie.  http://www.geert-edel.de/Texte/Text10.pdf