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Die Verbindung von aufklärerischer Vernunft und Wissenschaft

Ernst Cassirer (1874 - 1945)

„Wenn die posthume Nachwirkung eines Philosophen auf die Geister ein Zeichen und das wachsende Interesse an seinen Werken ein Maß für seine Größe ist, dann war Cassirer einer der großen Philosophen der neueren Zeit.“

Carl H. Hamburg, Ernst Cassirers Philosophiebegriff, in: Ernst Cassirer Hrsg. Paul Arthur Schilpp, Stuttgart, Kohlhammer Verlag 1966 (1949), S. 28.

„Wie Cohen und Natorp setzt sich Cassirer intensiv mit dem Verhältnis von Logik und Mathematik auseinander. Noch stärker als jene sieht er sich dabei allerdings ans Faktum der gegenwärtigen Wissenschaftsentwicklung verwiesen. Schon früh wird ihm die Auseinandersetzung damit zur Schicksalsfrage der kritischen Philosophie, wobei ihm klar zu sein scheint, daß vor allem die Philosophie auf die exakten Naturwissenschaften angewiesen ist und nicht etwa umgekehrt die Wissenschaft auf die Philosophie: ‚Das Schicksal und die Zukunft der kritischen Philosophie wird durch ihr Verhältnis zur exakten Wissenschaft bedingt. Wenn es gelänge, das Band zwischen ihr und der Mathematik und mathematischen Physik zu zerschneiden, so wäre sie damit ihres Wertes und Inhalts beraubt.

Ursula Renz, Die Rationalität der Kultur, Meiner Verlag, Hamburg 2002, S. 72. Cassirer Zitat: Kant und die moderne Mathematik, Kant-Studien 12 (1-3):1 1907.

„The importance attributed to Cassirer as a philosopher of cultural, symbolic forms has often led the scholarship to underestimate the role played by science in the framing of his thought. Until recently, therefore, the historical development of scientific knowledge as a pivotal point in his thought has largely been neglected.“ 

Massimo Ferarri, Ernst Cassirer and the History of Science, in:  J Tyler Friedman, Sebastian Luft (Eds.), The Philosophy of Ernst Cassirer, Berlin/Boston De Gruyter 2015, p. 11.

„Denn die erkenntnistheoretische Besinnung führt uns überall zu der Einsicht, daß dasjenige, was die verschiedenen Wissenschaften den Gegenstand nennen, kein ein für allemal Feststehendes, an sich Gegebenes ist, sondern daß es durch den jeweiligen Gesichtspunkt der Erkenntnis erst bestimmt wird. Je nach dem Wechsel dieses ideellen Gesichtspunktes entstehen für das Denken verschiedene Klassen und verschiedene Systeme von Objekten … Was immer diese Gegenständlichkeit bedeuten mag, in keinem Falle kann sie mit dem zusammenfallen, was die naive Weltansicht als die Wirklichkeit ihrer Dinge, als die Wirklichkeit der sinnlichenWahrnehmungsobjekte anzusehen pflegt. Denn von dieser Wirklichkeit sind die Objekte, von denen die wissenschaftliche Physik handelt, und für die sie ihre Gesetze aufstellt, schon durch ihre Grundform geschieden.“

Ernst Cassirer, Zur modernen Physik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1987, S. 9.

„Die erste systematische Schrift, die ich vor mehr als 25 Jahren veröffentlicht habe, behandelte unter dem Titel ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ das Problem der mathematischen und naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Sie suchte am systematischen Inhalt dieser Begriffsbildung und in ihrer Geschichte eine einheitliche methodische Tendenz aufzuweisen und deren erkenntniskritische Bedeutung festzustellen. Dabei wurde das ‚Faktum der Wissenschaft‘ in der Form zugrunde gelegt, wie es zu Beginn der Jahrhundertwende vorlag. (...) Was die Grundanschauung betrifft, gemäß der ich selbst diese Fragen zu behandeln suche, so hat sie sich gegenüber meiner Schrift ‚Substanzbegriff und Funktionsbegriff‘ (1910) in den eigentlich wesentlichen Zügen nicht geändert. Ich glaube auch heute noch diese Anschauung aufrecht erhalten zu können; ja ich glaube, sie auf Grund der Entwicklung der modernen Physik schärfer formulieren und besser begründen zu können, als es früher der Fall war.“

Ernst Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, in: Zur modernen Physik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1987, S. 129f.

„Da sich Klein bei seinen Überlegungen auf immanente bzw. rein mathematische Fragestellungen beschränkt habe, erscheine ihm die Frage nach dem Wesen der Geometrie in einem neuen Licht: ‚In fact, What is geometry? It is not a description of a certain metaphysical or empirical thing called >space<. It has no ontological, but epistemological meaning and purport; it is a mode of thinking and arguing by which we organize our experience - of spatial forms. In this process of organization our mind is completely free - it has only to study its own inherent logical laws, it does not imitate or copy an outward reality.‘“

Karl-Norbert Ihmig, Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des >Erlanger Programms<, Meiner Verlag, Hamburg 1997, S. 311; Cassirer Zitat: Reflections on the concept of group and the theory of perception (1945), in: D. Ph. Verene (ed.), Symbol, Myth, and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935-1945, New Haven/London 1979, S. 271-291.

„Symbolische Prägnanz - Der Begriff der Prägnanz, den Cassirer im dritten Band seiner Philosophie der symbolischen Formen in den Mittelpunkt seiner Theorie rückt, ist der Gestaltpsychologie und insbesondere der Berliner Schule entnommen, findet aber bei Cassirer eine charakteristische Bedeutungstransformation. (...) Sein Prägnanzbegriff betont die symbolische Konzentration einer ‚Gesamterfahrung‘ in einer Einzelerscheinung, d.h. die Organisation der Wahrnehmung durch ‚charakteristische Sinnverbände‘, durch die Präsentes zugleich repräsentativ im Sinne geistiger Ordnungen und in sich gegliederter Systeme genommen wird. (...) Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der ‚Prägnanz‘ bezeichnen.

Martina Plümacher, in: Martina Plümacher, Volker Schürmann (Hrsg.), Einheit des Geistes, Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main 1996, S. 128.

„Wie Platon gesagt hat, daß für den rechnenden Astronomen die Sternbilder nichts an sich selbst bedeuten, sondern daß sie ihm nur als ‚Paradeigma‘ dienen, an dem er sich die rein mathematische Natur der Bewegung, an dem er sich das zeitlose ideelle Wesen des ‚Schnelleren‘ und des ‚Langsameren‘ zum Bewußtsein bringt - so wird dem mathematischen Geiste der Linienzug zu nichts anderem als zum anschaulichen Repräsentanten eines bestimmten Funktionsverlaufs. Er erfaßt an seiner unmittelbar gegebenen Gestalt ein Etwas, was sich in der Anschauung als solcher schlechthin entzieht - er sieht in ihm das Bild eines Gesetzes, einer Form der ideellen Zuordnung, die das letzte Fundament für alles mathematische Denken ist. Und auch hier ist es das Ganze der anschaulichen Gestalt, nicht etwa nur ein Teil oder Bruchstück von ihr, das unter diesen spezifischen ‚Gesichtspunkt‘ gestellt und ihm gemäß mit einem bestimmten Sinngehalt durchdrungen wird.“

Ernst Cassirer, Das Symbolproblem im System der Philosophie (1927), Gesammelte Werke, Band 17, Meiner Verlag, Hamburg 2004, S. 258.

„Der Unterschied zwischen den mathematischen und physikalischen Begriffen besteht hierbei nur in der Art der Konstitution. Die mathematischen Begriffe lassen sich konstitutiv aufbauen; wir ‚erschaffen‘ diese Begriffe durch die Bedingungen, die wir ihnen auferlegen, durch die Axiomen-Systeme, denen sie zu genügen haben. An die Stelle dieser logischen Axiomatik tritt in der Physik die Form der hypothetischen Setzung der Grundbegriffe und der hypothetischen Deduktion. Wir setzen die Begriffe so an, daß durch sie die Erscheinungen möglichst vollständig und einheitlich beschrieben, daß durch sie die Phänomene ‚gerettet‘ werden. (...) Ein Begriff, dessen implizite Definition in einem Inbegriff empirischer Relationen besteht, muß zugleich fest und beweglich sein: das erstere, damit die Erkenntnis an ihm einen bestimmten Richtpunkt besitzt, das zweite, damit er sich immer von neuem an der Erfahrung orientieren und an ihr prüfen kann.“

Ernst Cassirer, Zur modernen Physik (1937), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1987, S. 355.

 "'Such an experience,' Cassirer writes, 'is never composed of mere sensory data, (but) as sensory experience it is always the vehicle of a meaning and stands as it were in the service of that meaning. But precisely therein it is able to perform very different functions and through them to represent very different worlds of meaning.' (...) The same line could also be considered as a 'geometrical schema, a means of representing a universal geometrical law. Whatever does not serve to represent this law, whatever appears as an individual factor in the line, now becomes utterly insignificant; it has departed, one might say, from our field of vision.'"

Gregory B. Moynahan, Ernst Cassirer and the Critical Science of Germany 1899-1919, Anthem Press, London/New York 2014, p. 73. (Cassirer's quote is from Philosophy of Symbolic Forms 3, New Haven: Yale University Press 1957, p. 201.)

 „Der Gedanke eines ‚Ansich‘, das sich zu jeder Form der Aktivität schlechthin heterogen und gegensätzlich verhielte, würde daher mit der versuchten Feststellung des Ziels der Erkenntnis zugleich jeden Weg abschneiden, der uns zu ihm - ja der bloßen Kenntnis von ihm als einem Ziel - hinführen könnte. In Wahrheit gibt es für uns keine andere Konstanz, als diejenige, die durch Fixierung jener intellektuellen Gesamtbewegung in bestimmten Regeln erreicht wird. Ohne die Vermittlung durch die Aktivität des Urteils wäre der ‚Bestand‘ der Wahrheit uns nicht reiner und unvermischter, sondern vielmehr überhaupt nicht ‚gegeben‘ (...) Auch der einzelne ‚Satz‘ ist, als einzelner, nur ein fragmentarisches Datum, das uns eine ‚Wahrheit‘ gleichsam nur gebrochen und zerstückelt darstellt. Er bedarf, damit sein Sinn vollkommen heraustritt, durchweg einer näheren Bestimmung, durch welche er mit der Gesamtheit der übrigen Sätze in Beziehung gesetzt und in einen lückenlosen Zusammenhang mit ihnen eingereiht wird. (...) Insofern tritt, was ein einzelner Begriffsgegenstand in Wahrheit ‚ist‘, gleichfalls erst in einer unendlichen Reihe von Bestimmungen hervor, durch die all jene möglichen Beziehungen aufgedeckt werden.“

Ernst Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, Jahrbücher der Philosophie, 1 (Berlin 1913), S. 12.

"The mind is exactly one whole that cannot at any point be separated into fragmented portions. In a discussion of Hegel, Cassirer points out that Geist 'forms a completely concrete unity,' in such a way that 'there is no sudden breach or leap, no hiatus by which it breaks into disparate 'parts''. We might substantiate Cassirer's claim by help of a reductio argument similar to Kant's. Assume that the mind is not one, but many, i.e., that there is at least one protion of mental occurrences that are both in complete isolation from each other. Yet, they belong to the same mind and are thus not in complete isolation from each other. Hence, the assumption is inconsistent."

Guido Kreis, Cassirer's Philosophy of Mind, in: Simon Truwant (Ed.), Interpreting Cassirer, Cambridge University Press, Cambridge 2021, p. 176.

„In der Tat verbürgt uns nichts, daß die gemeinsamen Merkmale, die wir aus einem beliebigen Komplex von Objekten herausheben, auch die eigentlich charakteristischen Züge enthalten, die die Gesamtstruktur der Glieder des Komplexes beherrschen und nach sich bestimmen. Wenn wir - um ein drastisches Beispiel Lotzes zu gebrauchen - Kirschen und Fleisch unter die Merkmalgruppe rötlicher, saftiger, eßbarer Körper unterordnen, so gelangen wir hiermit zu keinem gültigen logischen Begriff, sondern zu einer nichtssagenden Wortverbindung... Somit zeigt es sich, daß die allgemeine formale Vorschrift für sich allein nicht genügt, daß vielmehr überall zu ihrer Ergänzung stillschweigend auf ein anderes gedankliches Kriterium zurückgegriffen wird.“

 Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910, S. 8.

„Stark von außen her angegriffen blieb die Position des neukantianischen kritischen Idealismus durch den Positivismus. (...) Wenn Mathematik eine Trumpfkarte in der Hand der Platoniker und Kantianer gegen die Empiristen zu sein schien, so war im logischen Positivismus eine feste Allianz zwischen Positivismus, Mathematik und neuer symbolischer Logik geschlossen worden. Durch die angeblich geglückte Unterminierung der Kantischen Auffassung des synthetisch apriorischen Charakters der mathematischen Urteile schien eine tiefe Bresche in den Wall der Kantischen Philosophie geschlagen. (...) Schließlich hatte der Neukantianismus, der mehr als andere Philosophien erkenntnistheoretisch zentriert war, sich mit den Revolutionen in den Spezialwissenschaften auseinanderzusetzen, durch die Newtons Physik überholt war, die aber auch in Biologe, Psychologie und Sozialwissenschaften sich ununterbrochen abspielten. Geschmeidigste Anpassung der ursprünglich Kantischen Kategorien an neue Soziologie und Sprachwissenschaft, zugleich aber auch an den neuen Typus der Einstein-Planckschen Physik war insbesondere die Leistung E. Cassirers. In anderen Formen machten sich Hönigswald und Cohn diese Wandlungen zu eigen.“

Siegfried Marck, Am Ausgang des jüngeren Neukantianismus, in: Hans-Ludwig Ollig, Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1987, S. 22f.

Ernst Cassirer-Gesellschaft:  https://ernst-cassirer.org/category/allgemein/

Ernst Cassirer Gesamtausgabe:  https://meiner.de/editionen-werkausgaben-ausserhalb-der-phil-bibl/ernst-cassirer-gesammelte-werke-hamburger-ausgabe.html

Ernst Cassirer Forschungen:  https://meiner.de/monographien-reihen/cassirer-forschungen.html

Biographie: https://www.deutsche-biographie.de/sfz19467.html#ndbcontent

Bedeutende Werke:
Descartes Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis, Marburg 1882
Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902
Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Band 1-4, Berlin 1906-1950
Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910
Kants Leben und Lehre, Berlin 1918
Idee und Gestalt, Berlin 1921
Die Philosophie der symbolischen Formen, Band 1-3, 1923 – 1929
Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Berlin 1927
Die Philosophie der Aufklärung, Berlin 1932
Zur modernen Physik, Darmstadt 1957
An Essay on Man, New Haven 1946
The Myth of the State, New Haven 1946

Thomas Knoppe: Philosophische Regressionsanalyse: Ernst Cassirers Mythos des Staates (mit Genehmigung des Autors)

pdfthomas-knoppe-cassirer.pdf