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Die Verbindung von aufklärerischer Vernunft und Wissenschaft

Hermann Lotze

„Rudolf Hermann Lotze (1817-1881) war in seiner Zeit der wohl angesehenste lebende deutsche Philosoph, und dies auch im europäischen und außereuropäischen Ausland. Seine historische Bedeutung für die nachhegelsche Philosophie bestimmte sich dadurch, daß er als ausgebildeter Naturwissenschaftler - er habilitierte sich in Medizin und Philosophie - dennoch materialistischen und naturalistischen Verallgemeinerungstendenzen entgegentrat. In seiner Logik hat sich dies darin niedergeschlagen, daß er einer Reduzierung des Denkens auf ‚Vorstellungsverläufe‘ heftig widersprach. (...) Innerhalb der deutschen Philosophie dürfte Lotze der einzige Autor und Lehrer gewesen sein, auf den sich sowohl die neukantianische Tradition, insbesondere die werttheoretische südwestdeutsche Schule (W. Windelband, H. Rickert, E. Lask, B. Bauch) als auch die phänomenologische Tradition (C. Stumpf, E. Husserl) berufen.“

Gottfried Gabriel, Einleitung, Rudolph Hermann Lotze, Logik. Drittes Buch. Vom Erkennen, Meiner Verlag, Hamburg 1989, S. IXf.

„Da war es nun in jüngster Zeit die entscheidende Leistung Lotzes, daß er neben der Art des Seienden und des Ueberseienden das Geltende als ein drittes Reich entdeckt und damit - wenigstens implizite - die Unzulänglichkeit der uralten Dualität des Sinnlichen und des Uebersinnlichen, der ganzen Zweiweltentheorie, offenbar gemacht hat. Wir stehen heute mitten in der Zeit seines belebenden Einflusses. Dem Lotzeschen Begriff dessen ‚was gilt, ohne sein zu müssen‘, hat Windelband eine das ganze System der Philosophie einheitlich beherrschende Bedeutung gegeben, in der letzten Scheidung des Denkbaren... Unabhängig von Lotze, der Formulierung, aber in letzter Linie nicht der Sache nach abweichend, steht neben dieser ganzen Richtung Cohen und der gesamte den Kantischen transzendentalen Begriff der apriorischen Gültigkeit für die Gegenwart wieder zurückerobernde Neukantianismus.“

Emil Lask, Die Logik der Phlosophie und die Kategorienlehre, J. C. B. Mohr (Siebeck) Verlag, Tübingen 1911/1993, S. 14.

„Unter den Denkern des neunzehnten Jahrhunderts hat dies Problem keiner so klar gesehen und so deutlich formuliert wie Lotze; seine ganze Lehre des teleologischen Idealismus läuft - genau wiederum im Sinne der Kritik der Urteilskraft - darauf hinaus, in der Gesamtheit der Gesetze das System der Formen zu sehen, durch welche sich eine inhaltliche Welt der Werte verwirklicht.

Wilhelm Windelband, Nach hundert Jahren, in: Präludien, Jörn Bohr / Sebastian Luft (Hrsg.) Hamburg 2021, Meiner Verlag, S. 146.

"Hermann Lotze held the chair of philosophy at Göttingen, between 1844 and 1880, from where he propounded a complex philosophy which, although emphazising organic unity and maintaining that the underlying nature of reality was spiritual, nonetheless broke clearly with the Hegelian Absolute Idealism, drawing sharply the distinction between thought and reality. (...) He became especially influential in the English-speaking world in the 1870s and 1880s. Many visited Göttingen to study under him including the British idealists, Haldane, Seth Pringle-Pattison, and James Ward, the American Idealists Josiah Royce, Borden Parker Browne, and Jacob Gould Shurman, as well as others, such as John Cook Wilson. And a host of further figures were influenced by his thought, including Green, Bradley, Wallace, Bosanquet, Sorley, and Rashdall."

W. J. Mander, British Idealism, Oxford University Press, Oxford 2014, p. 22f.

„Denn wirklich nennen wir ein Ding, welches ist, im Gegensatz zu einem andern, welches nicht ist; wirklich auch ein Ereigniß, welches geschieht oder geschehen ist, im Gegensatz zu dem, welches nicht geschieht; wirklich ein Verhältniß, welches besteht, im Gegensatze zu dem, welches nicht besteht; endlich wirklich wahr nennen wir einen Satz, welcher gilt, im Gegensatz zu dem, dessen Geltung noch fraglich ist. Dieser Sprachgebrauch ist verständlich; er zeigt, daß wir unter Wirklichkeit immer eine Bejahung denken, deren Sinn sich aber verschieden gestaltet, je nach einer dieser verschiedenen Formen, die sie annimmt (...). Denn aus Sein läßt sich nie ein Geschehen machen, und die Wirklichkeit, welche den Dingen zukommt, nämlich zu sein, gebührt nie den Ereignissen; diese sind nie, aber sie geschehen; ein Satz aber ist weder, wie die Dinge, noch geschieht er, wie die Ereignisse; auch daß sein Inhalt bestehe wie ein  Verhältniß, kann erst gesagt werden, wenn die Dinge sind, zwischen denen er eine Beziehung aussagt; an sich aber, und abgesehen von allen Anwendungen, die er erfahren kann, besteht seine Wirklichkeit darin, daß er gilt und daß sein Gegenteil nicht gilt. (...) Den Vorstellungen, sofern wir sie haben und fassen, gebührt die Wirklichkeit in dem Sinne eines Ereignisses, sie geschehen in uns, denn als Aeußerung einer vorstellenden Tätigkeit sind sie nie ein ruhendes Sein, sondern ein dauerndes Werden; ihr Inhalt aber, sofern wir ihn abgesondert betrachten von der vorstellenden Tätigkeit, die wir auf ihn richten, geschieht dann nicht mehr, aber er ist auch nicht so wie die Dinge sind, sondern er gilt nur noch. Und endlich, was dieses Gelten heiße, muß man nicht wieder mit der Voraussetzung fragen, als ließe sich das, was damit verständlich gemeint ist, noch von etwas Anderem ableiten...

Rudolph Hermann Lotze, Logik. Drittes Buch. Vom Erkennen, Meiner Verlag, Hamburg 1989, § 316, S. 511f.

"Though there was never a Lotzean school in Germany, Lotze proved to be a seminal influence on some very seminal thinkers: Brentano, Dilthey, Windelband, Rickert, Lask, Cohen, Husserl and Frege. All attempts to trace the sources of these distinctions, ultimately and inevitably, come back to him. He was indeed the grandfather of the concept of normativity, which has become such a mantra in contemporary philosophy."

Frederick C. Beiser, Late German Idealism, Oxford University Press, Oxford 2014, p. 129.

„So oft von irgendeinem Geiste ein vollkommener Kreis vorgestellt wird, so oft wird zwischen seinem Durchmesser und seinem Umfang, hier freilich nur durch eine Reihe von Zwischengedanken, das Verhältnis 1 : π gefunden werden; deshalb gilt diese Proportion an sich, aber obwohl sachlich gültig, hat sie doch ein Sein nur in Gestalt des Denkens, welches sie auffasst. Es verhält sich anders, wenn a und b ausdrücklich Wirklichkeiten Dinge Wesen bedeuten, die wir denkend nicht erzeugen, sondern als jenseitige Gegenstände anerkennen; dann drückt der Name der Beziehung weniger aus, als wir zwischen diesen Beziehungspunkten wirklich bestehend denken müssen. (...) So oft wir dagegen um eine in der Wahrnehmung uns aufgenöthigte Verbindung dieser Vorstellungen zu erklären, uns auf eine Beziehung C berufen, die an sich eben nicht zwischen ihnen, sondern zwischen den Dingen a und b bestehe, deren Denkbilder sie für uns sind, so müssen wir inne werden, daß das, worauf wir uns hier berufen, nicht eine Beziehung zwischen a und b, und deshalb überhaupt nicht mehr eine Beziehung in dem gewöhnlichen Sinne dieses Namens sein kann.

Rudolph Hermann Lotze, Logik. Drittes Buch. Vom Erkennen, Hrsg. Gottfried Gabriel, Meiner Verlag, Hamburg 1989, S. 556.

„Wichtig ist, daß Lotze davon ausgeht, die Kritik der reinen Vernunft behandle und entscheide alle wesentlichen Fragen der Philosophie (nicht bloß die Frage nach den Grenzen unseres Erkennens), und Kants versprochenes ‚System‘ hätte bloß eine andere ‚Darstellungsform der Resultate der Kritik‘ geben können.“

Gerhard Lehmann, in: Hans-Ludwig Ollig (Hrsg.), Materialien zur Neukantianismus-Diskussion, Wissenschaftlich Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt 1987, S. 59.

„Das unendlich oft erwähnte Gesetz des zureichenden Grundes, (...) hat das wunderliche Schicksal gehabt, auch von denen, die am häufigsten sich auf es beriefen, eigentlich niemals formuliert zu werden. Denn die gewöhnliche Anweisung, zu jedem Gültigkeit verlangenden Ausspruche müsse man einen Grund seiner Geltung suchen, vergißt, daß man das nicht suchen kann, von dem man nicht weiß, worin es besteht; zuerst muß offenbar klar gemacht werden, in welchem Verhältniß Grund und Folge zu einander stehen, und in welchem Inhalt man folglich den Grund für einen andern zu entdecken hoffen darf. Ich werde am kürzesten deutlich sein, wenn ich im Vergleich mit dem Ausdruck des Identitätssatzes A = A sogleich die Formel A + B = C als Bezeichnung des Satzes vom Grunde aufstelle und folgende Erläuterung hinzufüge. Für sich alleine würde A nur = A, B = B sein; aber nichts hindert, daß eine bestimmte Verbindung A + B, deren in den verschiedenen Fällen sehr verschiedenartiger Sinn hier symbolisch das Additionszeichen vertritt, den einfachen Inhalt der neuen Vorstellung C äquivalent oder identisch sei. (...) Wenn wir mit der Vorstellung A des Pulvers die Vorstellung B der hohen Temperatur des glühenden Funkens verbinden, mithin in A das Merkmal der gewöhnlichen Temperatur durch das der erhöhten B ersetzen, so ist dieses A + B die Vorstellung C des explodierenden Pulvers, nicht der Explosion überhaupt; der gewöhnliche Sprachgebrauch läßt zu dem gegebenen Subjekt A des Pulvers die hohe Temperatur B als Grund treten, aus welchem die Explosion C folgt, aber diese Folge denkt er sich natürlich nicht als einen Vorgang, der irgendwo stattfindet, sondern als eine Ausdehnung desselben Pulvers, auf welches der Funke wirkte.

Rudolph Hermann Lotze, Logik. Erstes Buch. Vom Denken, Hrsg. Gottfried Gabriel, Meiner Verlag, Hamburg 1989, S. 87f.

 „Naturgesetze haben sich uns bisher als allgemeine kategoriale Ordnungen enthüllt, durch die auch die Erfahrungsmaterialien derart einander zugeordnet und selbst bestimmt werden, daß ihnen die einzelnen Erscheinungen unterworfen sind. (...) Schon Lotze hatte mit unzweideutiger Klarheit die inhaltsreichen Sätze ausgesprochen: ‚In voller logischer Form ist Gesetz ein allgemein hypothetisches Urteil, welches sagt: immer wenn U ist oder gilt, gilt oder ist auch W, und allemal wenn U um eine bestimmte Differenz dU sich in U1 verwandelt, verändert sich auch W um eine von dU abhängige Differenz dW. Hypothetisch ist das Gesetz, weil es niemals erzählen soll, was geschieht, sondern immer nur bestimmen, was geschehen soll oder muß, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind. Nicht von diesem hypothetischen Sinne, sondern nur von der entsprechenden Form des Ausdrucks ausgenommen sind Gesetze, die sich auf dauernd gegebene oder als dauernd vorausgesetzte Bedingungen beziehen. Wenn man in kategorischer Form als Naturgesetz ausspricht: alle ponderablen Elemente ziehen einander nach dem umgekehrt quadratischen Verhältnis ihrer Entfernungen an, so drückt man damit nur aus, daß eine einzige stets erfüllte Bedingung, nämlich das gleichzeitige Vorhandensein in derselben Welt, für jene Elemente der hinlängliche Grund dieser Folge ist(Lotze, Logik, S. 391).“

Bruno Bauch, Das Naturgesetz, Leipzig / Berlin 1924, S. 27.

 „Verlassen wir so einfache Beispiele, überlegen wir Begriffe wie Dreieck, Thier oder Bewegung, so bedürfen wir, um ihren Inhalt richtig zu denken, eine Menge von Theilvorstellungen, die nicht mehr so gleichwerthig sind, sondern in den verschiedensten gegenseitigen Stellungen auf einander bezogen werden müssen. (...) Die Verfolgung dieser Mannigfaltigkeit ist zu weitläufig; zu der Ueberzeugung aber würde sie ersichtlich führen, daß im Allgemeinen die Merkmale eines Begriffs nicht gleichwertig einander coordinirt sind, daß sie vielmehr in den mannigfaltigsten Stellungen sich auf einander beziehen, einander verschiedenartige Anlagerungen vorschreiben und so sich wechselseitig determinieren, daß ein zutreffendes Symbol für den Bau eines Begriffs nicht die Gleichung S = a + b + c + d ..., sondern höchstens die Bezeichnung S = F(a, b, c ...) ist, welcher mathematische Ausdruck eben nur andeutet, das a, b, c, ... auf eine im Einzelfall genau angebbare, im Allgemeinen höchst vielförmige Weise verknüpft werden müssen, um den Wert S zu ergeben.

Rudolph Hermann Lotze, Logik. Erstes Buch. Vom Denken, Hrsg. Gottfried Gabriel, Meiner Verlag, Hamburg 1989, S. 46f.

„Das Sein der Objekte der mathematischen Schau ist dasjenige der wahren mathematischen Sätze, das Lotze Geltung nannte. Mathematische Erkenntnisse gelten, sind nicht wirkliche Ereignisse und Dinge. Lotze unterscheidet nämlich drei Weisen der Wirklichkeit: des Dinges (sein), der Ereignisse (geschehen) und der Sätze (gelten). Die Wirklichkeit der Vorstellungen unterteilt er in geschehende (Akt der Vorstellung) und geltende (Inhalt der Vorstellung). Die Wirklichkeit der Idee ist damit nicht Dasein (Sein, ousia) und nicht Geschehen (subjektiver Akt), sondern ein drittes: eben Gelten. Die Geltung mathematischer Sätze gründet keineswegs in den Dingen, man kann sie aber an den Dingen aufzeigen, repräsentieren, z. B. eine Beweisskizze.

Peter Schulthess, Platon: Geburtsstätte des Cohenschen Apriori? in: Philosophisches Denken - Politisches Wirken, Reinhard Brandt / Franz Orlik (Hrsg.), Georg Olms Verlag, Hildesheim 1993, S. 72.

„Im Hinblick auf Descartes' Lehre von den eingeborenen Ideen meinte Lotze, sie begegnen uns bei jeder wissenschaftlichen Untersuchung, die sich auf Entscheidungsgründe der Beurteilung und Prinzipien von hinreichend garantierter Geltung stützt. (...) Dabei sei es weniger dringlich zu wissen, woher jene Voraussetzungen geistigen Arbeitens stammen, als sicher zu sein, daß man sich auf sie verlassen kann. Lotze pflichtete Descartes bei, daß es sich hierbei um einen ursprünglichen Besitz des menschlichen Geistes handele. Er sah mit dem Namen der eingeborenen Idee nicht etwa eine besondere Art der Vorstellung, sondern einen Ausdruck für die dem Geist eigene Natur, im Prozeß der Erfahrung zum Denken erweckt und dann stets genötigt zu sein, zuerst unbewußt, dann darauf reflektierend, bestimmte Gedankenverknüpfungen unfehlbar in sich zu entwickeln.

Reinhardt Pester, Hermann Lotze - Wege seines Denkens und Forschens, Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 1997, S. 242.

„Terminologisch ist Geltung in das Vokabular der Transzendentalphilosophie zum ersten Mal von Hermann Lotze in dessen Logik (1874) eingeführt worden. Daß Geltung trotzdem in den späteren Grundlegungsversuchen der Transzendentalphilosophie nicht die gesicherte Stellung eines Terminus technicus genießt, hängt hauptsächlich von dem Umstand ab, daß die festumrissene Bedeutung, die der Terminus Geltung bei Lotze erhielt, für den Geltungsgedanken, wie er sachliche gesehen der Transzendentalphilosophie seit ihrem ersten Entwurf bei Kant zugrundeliegt, insofern verkürzend ist, als sie nicht alle seine Problembezüge zu ihrem Recht kommen läßt. Lotzes Hauptanliegen bei der Einführung des Terminus Geltung war nur die Abhebung der logischen Dignität eines wahren Satzes von seinem psychologischen Vollzug: ‚...wir alle sind überzeugt, in diesem Augenblick, in welchem wir den Inhalt einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn anerkannt zu haben; auch als wir ihn nicht dachten galt er und wird gelten, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen sowohl als auch von uns, und gleichviel, ob er je in der Wirklichkeit des Seins eine erscheinende Anwendung findet oder in der Wirklichkeit des Gedachtwerdens zum Gegenstand einer Erkenntnis wird.‘ (Hermann Lotze: Logik. System der Philosophie I, Leipzig 1928).“

Steinar Mathisen, Transzendentalphilosophie und System, Bouvier Verlag, Bonn 1994, S. 11.

Hermann Lotze Biographie: https://www.deutsche-biographie.de/sfz54473.html

Bedeutende Werke: 

Metaphysik, Leipzig 1841
Logik, Leipzig 1843
Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, Leipzig 1856-64
System der Philosophie:
Erster Theil, Drei Bücher der Logik, 1874
Zweiter Theil, Drei Bücher der Metaphysik, 1879